Dokumentation, Nachweispflicht und Co.: Wird der Arztberuf zum Bürojob?

Veröffentlicht am: 24.05.2024

Ärzt:innen verbringen deutlich mehr Zeit vor dem Bildschirm als mit ihren Patient:innen. Woran liegt das und was bedeutet das für die Versorgungsqualität? Wir nehmen den Zeitfresser Bürokratie im Gesundheitswesen unter die Lupe.

 

Das deutsche Gesundheitssystem belegt im europäischen Kostenvergleich Platz 2. Man sollte also meinen, die Deutschen seien gut versorgt. Aber: Betrachtet man die Lebenserwartung, landen deutsche Männer und Frauen in einem Vergleich von 16 Staaten nur auf den Plätzen 14 und 13.1 Was läuft schief?

Ärzt:innenmangel durch zu viel Bürokratie?

Seit geraumer Zeit steuert Deutschland geradewegs auf einen massiven Mangel an Ärzt:innen zu – eine enorme Herausforderung für eine alternde Gesellschaft.1 Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach forderte zuletzt 5.000 zusätzliche Medizinstudienplätze, um den Renteneintritt der Babyboomer-Generation abzufangen.2 Für viele ist der Arztberuf allerdings bei Weitem nicht mehr so attraktiv, wie er es früher einmal war. Einer der Gründe dafür ist, dass Ärzt:innen inzwischen einen großen Teil ihrer Arbeitszeit nicht mehr im Kontakt mit Patient:innen verbringen, sondern mit Verwaltung, Dokumentation oder sonstigen administrativen Aufgaben.1 Eine Untersuchung aus den USA verdeutlicht das eindrücklich.

Praxisärzt:innen sitzen fast die Hälfte ihrer Arbeitszeit am Computer

Die US-amerikanische Studie beobachtete 57 niedergelassene Ärzt:innen aus den Bereichen Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Kardiologie und Orthopädie über einen Zeitraum von insgesamt 430 Arbeitsstunden. Das erschreckende Ergebnis: Während der Öffnungszeiten der Praxen verbrachten die Ärzt:innen im Durchschnitt nur 27 % ihrer Zeit im direkten Kontakt mit ihren Patient:innen. Rund 49 % ihrer Zeit benötigten die Ärzt:innen dagegen für die Bearbeitung der elektronischen Akten ihrer Patient:innen und für andere Büroarbeiten.3

Zeitaufwand für bürokratische Tätigkeiten nimmt stetig zu

Zurück nach Deutschland. Der Marburger Bund kritisiert, dass der stetige Zuwachs an Regulierungsvorschriften im Gesundheitswesen – ambulant wie stationär – das zumutbare Maß längst überschritten habe. Eine Umfrage, die im Jahr 2022 unter 8.500 angestellten Ärzt:innen aus allen Bereichen durchgeführt wurde, ergab, dass im Mittel 3 Stunden pro Tag für Verwaltungstätigkeiten aufgewendet werden – Tendenz steigend.4

Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) beschäftigt sich mit dem Thema und erstellt seit 2016 einen jährlichen Bürokratieindex.5 In der Rückschau wird ersichtlich, dass das Problem nicht neu ist: Schon in ihrem Bericht von 2017 gibt die KBV die Arbeitsbelastung niedergelassener Ärzt:innen durch bürokratische Aufgaben mit über 54 Millionen Stunden pro Jahr an. Bei rund 170.000 niedergelassenen Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen in Deutschland entspricht dies etwa 318 Stunden pro Arzt bzw. Ärztin – oder fast 40 Arbeitstagen.5, 6

Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Zeitfresser

In der Kritik steht auch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), die für alle Vertragsärzt:innen verpflichtend ist. Einer Hochrechnung der KBV zufolge verursacht allein die eAU einen Bürokratieaufwand von etwa 1,25 Millionen Stunden pro Jahr in den Vertragsarztpraxen.7

Im stationären Bereich: Schieflage beim Verhältnis von Computerzeit und Zeit mit Patient:innen

Ebenso deutlich zeigt sich das Ausmaß des Aufwands für Computerarbeiten bei Ärzt:innen, die im stationären Bereich tätig sind. Eine Befragung in deutschen Kliniken ergab, dass Klinikärzt:innen 44 % der Arbeitszeit für Dokumentation und bürokratische Aufgaben aufwenden.8 Diese Zeit fehlt ihnen im persönlichen Kontakt mit ihren Patient:innen.9 Dabei ist gerade dieser Kontakt laut einer Studie für die Jobzufriedenheit von Ärzt:innen besonders entscheidend.10

Chancen und Risiken durch Digitalisierung

Was also tun? Die KBV betont, dass die Digitalisierung in der Medizin eine einmalige Chance biete, Ärzt:innen von bürokratischem Aufwand zu entlasten.5 Aktuell überwiegt allerdings häufig das Gegenteil. So geht es auch aus einer Veröffentlichung der im Jahr 2023 eigens eingerichteten Taskforce „Entbürokratisierung“ des Marburger Bundes hervor. Die dort organisierten Ärzt:innen erwarten von der Politik eine schnelle und pragmatische Entlastung in ihrem Arbeitsalltag, um in Zeiten des Fachkräftemangels ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen und die Versorgungsqualität garantieren zu können.4 Ob die geplante Krankenhausreform von Minister Lauterbach dazu beitragen kann, wird sich zeigen.


Quellen:

  1. Markt und Mittelstand. Gelesen, gelacht, gelocht: Vier Stunden täglich für die Verwaltung; unter: https://www.marktundmittelstand.de/finanzierung/gelesen-gelacht-gelocht-vier-stunden-taeglich-fuer-die-verwaltung (abgerufen am 07.05.2024).
  2. Tagesspiegel. „Der Einzelkämpfer-Arzt ist nicht das Zukunftsmodell“. Mehr Netzwerke, weniger Bürokratie – was sich Mediziner wünschen; unter https://www.tagesspiegel.de/politik/der-einzelkampfer-arzt-ist-nicht-das-zukunftsmodell-mehr-netzwerke-weniger-burokratie--was-sich-mediziner-wunschen-10459642.html (abgerufen am 07.05.2024).
  3. Sinsky C et al. Allocation of Physician Time in Ambulatory Practice: A Time and Motion Study in 4 Specialties. Ann Intern Med 2016; 165: 753–760. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27595430.
  4. Marburger Bund. Bürokratie abbauen, Ärztinnen und Ärzte entlasten. Pressemitteilung vom 15.05.2023; unter: https://www.marburger-bund.de/sites/default/files/files/2023-05/Zwischenbericht%20Task%20Force%20Entb%C3%BCrokratisierung%20Marburger%20Bund_2.pdf (abgerufen am 07.05.2024).
  5. Kassenärztliche Bundesvereinigung. Bürokratieindex 2017; unter: https://www.kbv.de/html/60746.php (abgerufen am 07.05.2024).
  6. Kassenärztliche Bundesvereinigung. Gesundheitsdaten; unter: http://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16393.php (abgerufen am 08.05.2024).
  7. Kassenärztliche Bundesvereinigung. Bürokratieindex 2022; unter: https://www.kbv.de/html/60746.php (abgerufen am 07.05.2024).
  8. Deutsches Ärzteblatt. Klinikärzte verbringen 44 Prozent ihrer Zeit mit Dokumentation, 2015; unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/62266/Klinikaerzte-verbringen-44-Prozent-ihrer-Zeit-mit-Dokumentation (abgerufen am 08.05.2024).
  9. Mednic. Ärzte arbeiten nur noch für Dokumentation; unter: https://mednic.de/aerzte-arbeiten-nur-noch-fuer-dokumentation/18908 (abgerufen am 07.05.2024).
  10. Friedberg MW et al. Research Report. Factors Affecting Physician Professional Satisfaction and Their Implications for Patient Care, Health Systems, and Health Policy. The RAND Corporation, 2013; unter: https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR439.html (abgerufen am 08.05.2024).

 

Bildnachweis: humonia/iStock.com; iStock-868924670.jpg

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